Mein Austrittsbrief
25.09.2013
An die Personen, die mir nahe standen
Wer meine Entscheidungen nachvollziehen will, sollte diesen Brief gründlich bis zu Ende lesen, nur dann wird man verstehen warum ich so handle wie ich es gerade tue. Dann bin ich auch bereit, mich auszutauschen und eventuelle Fehler zu überdenken.
Einige haben sich nach meinem Befinden erkundigt, andere wollten mich zum Essen einladen und wieder anderen war es schlichtweg egal, dass wir uns nun über ein halbes Jahr nicht gesehen haben. Meine lieben Eltern haben es vorgezogen jetzt schon mal den Kontakt bis aufs Notwendigste abzubrechen, obwohl ich nicht im geringsten gesündigt habe.
Seit mir ein Ältester einer Nachbarversammlung erzählt hat, er habe mal einem Taufanwärter gefragt ob er wirklich mal geprüft hat, ob ihn seine Eltern nicht in einer Sekte großgezogen haben, keimte auch in mir der Gedanke ob es so wäre. Geprüft habe ich in der Tat nie irgendetwas. Alles was ich gelesen habe, hatte entweder nicht mit Religion zu tun oder war von der Wachtturmgesellschaft herausgegeben – wodurch ich nie die Gelegenheit hatte zu prüfen, ob das was ich mein ganzes Leben gelernt habe, überhaupt richtig ist. Gelernt habe ich immer, dass man gar keine anderen Quellen prüfen muss, weil die leitende Körperschaft das alles richtig von Gott gegeben aufschreibt oder aufschreiben lässt. Ihre Interpretation der Bibel wäre auf jeden Fall die “Wahrheit” und wenn man das aktuelle Verständnis ändert, leuchtete das Licht heller und wir glauben jetzt etwas anderes, es ist ja jetzt auch viel klarer, zumindest bis es wieder geändert wird.
Auch über Bereiche, über die die Bibel gar nichts sagt, gibt es klare Anweisungen wie ich mich zu verhalten habe, was ich zu tun und zu lassen habe. Warum? Weil es heidnischen Ursprungs ist. Was ich nie verstanden habe, war, dass wir nicht mit Getränken anstoßen dürfen (obwohl es ALLE mit denen ich zusammen war getan haben, wenn wir unter uns waren), weil früher damit Göttern zugeprostet wurde. Auf der anderen Seite muss aber jeder Zeuge Jehovas eine Krawatte tragen, die ihren Anfang im Militär fand.
“Die plausibelste Geschichte der Krawatte beginnt mit dem 30-jährigen Krieg (1618-1648). Damals waren mit die besten Krieger die Reiter aus Kroatien und haben für König Ludwig XIII gekämpft. Sie haben den Unterschied in diesem Krieg ausgemacht und wurden deswegen dem König präsentiert. Diese Kriegshelden trugen leuchtende Seidenbänder um den Hals. König Ludwig XIII war nicht nur modebewusst, sondern auch eitel und war somit diesem Stil der kroatischen Reiter sofort verfallen. Von diesem Punkt an war das Wort‚ Cravat (eine Ableitung des Wortes ‚ Croat’) geboren und wurde auch sehr schnell beliebt beim gesamten europäischen Adel.”
Quelle: http://www.krawattenspezialist.de/geschichte-der-krawatte
So oft wird mit zweierlei Maß gemessen. Hier ein Beispiel, welches meines Erachtens nicht so lange her ist und den Kern meiner Gedanken trifft:
Die Brüder in Malawie wurden in den 1990er Jahren schwer verfolgt, getötet, vergewaltigt und geplündert, weil sie keine Parteikarte erworben haben. Diese diente nur der Form, um zu sehen, ob sich jemand offiziell gegen den Putsch stellt. Zeugen Jehovas wurde aus Gründen der Neutralität verboten, diese Karte zu erwerben, was diese schlimmen Folgen hatte. Kurze davor hatte die WTG entschieden, dass Zivildienst für Zeugen Jehovas nicht in Frage kommt, weil es als Ersatz für den Wehrdienst gilt.
In Mexico musste man zu dieser Zeit wöchentlich ein Jahr lang eine Kriegsausbildung ableisten, um die keiner herumkam. Die Behörden waren aber bestechlich und viele Brüder wählten diesen Weg. Wie reagierte die WTG darauf? Sie billigte es, weil es ja nur eine Zahlung sei, als ob man eine Wahre kaufen würde.
Jeder sollte urteilen, ob das gerecht ist oder nicht.
Auch machen wir uns aus so vielen Sachen gar nichts und dann aus einer Mücke einen Elefanten. Mehrmals wurde darauf hingewiesen, dass Filme wie Harry Potter und die “Der Herr der Ringe”-Trilogie nichts für einen Zeugen Jehovas sind. Einige haben in so einer Diskussion ihr Dienstamt verloren. Auf der anderen Seite wurde gegen die schon in den 60er Jahren bekanntgewordenen “Star Wars” Filme meines Wissens kein Wort verloren. Nach ausreichender Prüfung kann ich sagen, dass sich die besagten Filme nicht im geringsten Unterscheiden was Magie, Zauberei, Krieg und Gewalt betrifft.
Und dennoch gibt es welche, die das eine verurteilen und das andere dulden, wobei die breite Masse einfach alles guckt und es einfach niemanden sagen und jenen verurteilen der ehrlich ist und diese Dinge mit seinem Gewissen vereinbaren könnte und anspricht.
Meine Entscheidung, die Zusammenkünfte nicht mehr zu besuchen. traf ich am 8. Dezember 2012 in den Abendstunden einer eiskalten Winternacht. Ich kam von einem Konzert nach Hause, ich darf bestimmt nicht sagen mit wem ich da war, weil ein Ältester dabei war und das bestimmt nicht ganz vorbildlich war. Ich hatte zuvor eine kleine Meinungsverschiedenheit mit meiner Frau, aus der wir beide nicht so recht herausfanden.
Auf jeden Fall lag ihr etwas schwer auf dem Herzen und wir hatten Freunde zu Besuch. Wir zogen uns zurück, um zu reden und ich habe nicht lange gebraucht, um herauszufinden was ihr eigentlich so zu schaffen machte. Wir unterhielten uns bestimmt zwei Stunden über Zeugen Jehovas und wie fertig sie das ganze Vorbildlichsein, der Druck, der Stress und die Heuchelei machen. Ich habe angefangen, Dinge die ich für Selbstverständlich nahm oder die ich nie aus einem anderen Blickwinkel betrachtet hatte, in einem völlig neuen Licht zu sehen. An dieser Stelle wurden mir wirklich die Augen geöffnet und ich begann, wahrscheinlich wirklich zum ersten Mal in meinem Leben über meinen Glauben nachzudenken. Ich dachte nach über Dinge wie das eine sagen und das andere tun, Menschen die eine andere Meinung haben, zu verachten und auszuschließen, Umgangsverbot, die Ältesten, die mir den Kontakt zu A. (meiner Frau) unter Androhung von Bezeichnung verboten hatten (einem „Ausschluss light“, wie ich es gern nenne). Darüber, dass wir davon überzeugt sind die absolute Wahrheit zu haben und alle anderen Religionen – wirklich alle anderen – falsch liegen. Auf einmal klang für mich doch alles nicht mehr so nach harmonisch zusammengefügt in Liebe.
Meine ersten Gedanken am nächsten Morgen auf dem Weg zum Weihnachtsmarkt waren, dass dies alles gerade gar nicht passiert. Genau in der Situation, in der du jetzt steckst, wolltest du doch niemals sein, so einer der zweifelt, der Jehova infrage stellt, ein Abtrünniger.
Auf der anderen Seite spürte ich eine absolute Erleichterung, obwohl ich doch gerade mal ein paar Stunden eine Alternative zu meinem bisherigen Leben aus Predigtdienst, Versammlung und Vorbereitung in Betracht zog.
Ich fühlte einfach, dass ich diese Veränderung in meinem Leben brauche. Ich fühlte mich glücklich, erleichtert und zufrieden.
Doch ein Gewitter zog in meiner heilen Zukunftsgedankenwelt auf: Was ist mit deiner Familie und deinen Freunden? Mir war klar, wenn ich in meinem Leben eine Veränderung wollte, wird das ein harter Kampf, doch ich war bereit diesen Weg zu gehen. Ich wollte keine Angst mehr haben, etwas falsch zu machen und mich dann vor Ältesten rechtfertigen zu müssen. Ich wollte mich nicht mehr beeinflussen lassen, wie ich mir die Zukunft vorstelle, wie ich meine Freizeit gestalten will, was ich für Musik gut finde, welche Filme ich gucken möchte, was ich mal arbeiten möchte und ich möchte einfach nicht mehr als billiger Gebäudereiniger arbeiten. Nein, ich möchte studieren und Menschen helfen. Ja, ich will höhere Bildung und ich glaube nicht, dass mich diese von Gott entfernt. Ich bin davon überzeugt, dass mich mehr Wissen auch näher zu ihm bringt.
Der Grundstein war gelegt. Ich fing an zu forschen – und zwar wirklich zu forschen. Ich ließ andere Gedanken wirken, akzeptierte sie, respektierte sie.
Es folgte eine Zeit des Erwachens. Ich blühte regelrecht auf. Ich war motiviert, begann zu argumentieren, zu diskutieren, bildete mir eine eigene Meinung. Ich fing an, mich selbst in einem anderen Licht zu sehen. Zum ersten Mal begriff ich, dass ich nicht alles können und wissen muss, dass ich Fehler machen darf und selber aus diesen lernen kann. Ja, Fehlentscheidungen gehören nun einmal zum Leben dazu und ich kann selbst erkennen, welche Lehre ich daraus ziehe und welches Lehrgeld ich bezahlen muss. „Sich selbst reflektieren“, dieser Begriff war für mich neu, was sollte das denn sein? Ich weiß es heute immer noch nicht, aber ich begreife mich und meine Umwelt mehr. Ich weiß, dass ich mich selber akzeptieren muss, mit mir ins Reine kommen muss. Dass ich erkennen muss, was mich wirklich glücklich macht. Ja, mich selbst zu lieben, das muss ich lernen und das ist vielleicht leichter gesagt als getan. Früher konnte ich nicht „Nein“ sagen, ich tat alles was von mir verlangt wurde ohne drüber nachzudenken. Ohne mich zu informieren, zu hinterfragen oder ausreichend zu planen. So kam es oft vor, dass ich über meine Fähigkeiten hinaus Dingen zugestimmt habe, die ich nicht schaffen konnte und Ärger bekam, wenn ich sie nur unzureichend erfüllt hatte.
So erging es mir als ich Gebietsdiener der Versammlung wurde. Diesen Posten wollte ich schon immer haben und schon Jahre früher habe ich davon geträumt, Gebiete einzuteilen und zu vergeben und Ordnung ins Chaos zu bringen. Ich war überglücklich, als es soweit war. Doch dann der Schock, ein Ältester, sogar ein Freund und Familienmitglied hatte die Oberhand über das Projekt und schon war es aus mit meinen Träumen. Ich sollte das ganze Versammlungsgebiet neu einteilen. Soweit so gut, das wollte ich ja auch, nur ich sollte ALLE Klingeln der Häuser zählen und sie in gleichgroße Gebiete einteilen. Die Arbeit begann am Computer und machte mir Spaß. Ich war richtig motiviert, doch dann ging es ans Zählen. Ich habe für die ersten drei Gebiete über drei Stunden gebraucht, es war kalt und schon hatte ich keine Lust mehr. Ich bat den Ältesten darum, mir noch einen Bruder mit ins Boot zu holen, damit wir uns die Arbeit teilen könnten, aber er lehnte ab.
Man beachte: Ich hatte zwei Teilzeitjobs, stand im Pionierdienst (also 70 Stunden im Monat im Predigtdienst), war Dienstamtgehilfe und somit mehr Aufgaben und ich durfte die ganze Zählaktion nicht als Dienstzeit zählen. Und nun erklär mir mal, wie man das mit Anfang Zwanzig als Jugendlicher schaffen soll, ohne zu erschöpfen und die ganze Sache hinschmeißen zu wollen.
Die Idee mit dem Hinschmeißen kam schon kurz danach und ein halbes Jahr nach der Sache war es eigentlich schon um mich geschehen. Ich konnte oder wollte es nur noch nicht einsehen, aber ich steckte schon mittendrinn. Da erreichte mich auch noch ein Anruf von dem Ältesten, der mit mir die Gebiete machte. Er fragte mich warum ich mit meinen Predigtdienststunden soweit hinterherhänge, wie großartig. Ich war so sauer.
Ich glaube, in dieser Zeit lernte ich A.kennen. Sie war etwas Besonderes, dass wusste ich als ich Ihr Bewerbungsfoto im Büro sah. Und ja, sie war wirklich etwas Besonderes. Obwohl ich Frauen gegenüber eher schüchtern bin, wollte ich diese Frau unbedingt kennenlernen. Ich habe sie mit eingearbeitet und wir haben erzählt und erzählt, über alles Mögliche: Filme, Bücher, Studium, Arbeit und Belanglosigkeiten. Und wir haben uns verstanden, ja es war sogar schön mit ihr. Mir fällt gerade ein, dass sogar an unserem ersten gemeinsamen Arbeitstag meine Schwester und mein Schwager, der Älteste, ins Café kamen.
Die Zeit nahm ihren Lauf und A. besuchte mich immer öfter in meiner Schicht, sie blieb mehrere Stunden einfach bei mir und wir erzählten. Sie lud mich ein, etwas mit ihr und ihren Freunden zu unternehmen. Mein christliches Zeugen Jehovas Gewissen ließ das nicht zu und ich sagte immer kurz vorher ab.
An einem Tag sagte sie, dass sie gern in eine neue WG umziehen würde. Spaßeshalber schlug sie vor, dass wir ja zusammenziehen könnten. Ich war so hin und her gerissen. Erst in dieser Zeit fing ich an, seltener in den Predigtdienst zu gehen und Stunden aufzuschreiben, die ich gar nicht gegangen bin, um mehr Zeit mit ihr verbringen zu können. Wir verbrachten jetzt auch außerhalb der Arbeit Zeit miteinander. Ich besuchte sie und wir besuchten zusammen ihre Kommilitonen, die mir sehr ans Herz gewachsen sind.
Im Dezember 2010 kam ein verhängnisvoller Abend, der mein ganzes Leben verändern hätte können, wenn ich mich hätte dazu durchringen können. Ich stand vor dem Spiegel völlig aufgewühlt aus Sorge vor Konsequenzen, die sicherlich bald kommen würden und vor Geldproblemen die ich hatte.
Mein Plan war alles, was Zeugen Jehovas betrifft, hinzuschmeißen und mir eine richtige Arbeit zu suchen, um meine Schulden loszuwerden, mit A. zusammenzuziehen und einfach glücklich zu werden. Aber an diesem Abend entschied ich mich dagegen. Aber einen Teil meines Planes wollte ich durchführen. Ich wollte mit dem Pionierdienst aufhören, um mehr Zeit für mich zu haben und um mir eine neue Arbeit zu suchen.
Tags darauf war ich mit meinen Eltern verabredet, wir fuhren ins Solebad in Schönebeck und ich erzählte Ihnen meine Pläne.
Alles was meine Eltern dazu sagen konnten, war, dass ich nicht mit dem Pionierdienst aufhören soll und dass wir das schon auf die Reihe kriegen, vielleicht mit einem Kredit. Hauptsache nicht mit dem Dienst aufhören, damit ja keiner sein Gesicht verliert. Dass ich gar nicht reich werden wollte, sondern nur mein Leben ordnen wollte, hat sie nicht interessiert. An dem Tag habe ich viel über A. und ihre Freunde erzählt und meine Eltern meinten, ich solle ja vorsichtig sein und nicht so viel Zeit mit Weltmenschen verbringen.
Also musste ein Plan B her. Ich wollte A. natürlich nicht verlieren. Sie hatte schon so viel für mich getan – ohne es zu wissen. Ich lernte achtsamer mit Geld umzugehen (ein Manko, das ich bis heute habe). Ich wurde offener und ja, wie soll ich es sagen, ich wurde toleranter. Dennoch tat ich viel in und für die Versammlung und unweigerlich sprach ich mit A. über meinen Glauben. Dass sie schnell als Zeugin Jehovas getauft wurde, ist allen bekannt, wenigen wird bekannt sein welchen schweren Weg wir zu gehen hatten.
Die Monate vergingen und es wurde wärmer. Ich besuchte sie in Ihrer Schicht, sie besuchte mich in meiner und wir trafen uns regelmäßig und gingen an den Fluss, in den Park, an den H...platz und zu ihr. Erst zögerlich, dann doch jeden Sonntag schlich ich mich aus meiner WG nach dem Filmeabend mit Freunden und fuhr ins Flower Power zum Livemusikabend, zu ihr. Was für eine spannende Zeit das doch war… irgendwie wie ein Abenteuer, aber nicht ohne Folgen. Abenteuer hin oder her ich musste, um der Person nahe zu sein, die ich sehr mochte, alle die ich kannte, belügen. Besonders schwer traf das Familie T. und Familie S., die ich zu meinen engsten Freunden zählte. Dennoch musste ich an mich denken. Ich wollte eine Freundin, die anders ist, die zu mir passt. Ich wollte Bestätigung, ich wollte Nähe. Ich wollte küssen und geküsst werden. Ich wollte echte Liebe. Und zu diesem Zeitpunkt wollte ich ihre Liebe. Das war aber alles andere als einfach, denn bei Zeugen Jehovas ist man nie unbeobachtet...
Anfang April waren wir dann zusammen, die ganzen für mich schönen romantischen Details haben in diesem Brief nichts zu suchen.
Eines Tages waren wir beide im Café und ich bekam einen Anruf vom Koordinator der Ältesten, dass er sich gern mit mir unterhalten würde. Ich hatte so viel Angst, dass ich gleich hingefahren bin. Es ging darum, ob eine Frau in meinem Leben eine größere Rolle spielt und dass, wenn sie nicht aus der Versammlung ist, ich natürlich kein Diener mehr sein könne. Nach meinem Verständnis schlug er mir vor, mein Dienstamt aufzugeben, alles zu regeln und wenn ich wieder vorbildlich wäre, könnte ich mein Dienstamt sogar zurückbekommen.
Dieser Vorschlag wurde aber später “richtiggestellt”. Ich stand also jetzt vor der Wahl: Erstens Pionierdienst und Dienstamt aufgeben und mehr oder weniger geheim mit A. zusammen zu sein oder den Kontakt mit A. abzubrechen bis sie getauft ist. Am Abend saßen wir an der Elbe und bliesen Trübsal. Sie wollte das nicht von mir verlangen und sie war so ehrlich, mir zu sagen. dass sie nicht wisse was in einem Jahr (wenn sie getauft sein könnte) sein wird und ob sie dann überhaupt noch Gefühle für mich hätte. Und wir beschlossen erstmal genauso weiterzumachen wie bisher. Bis zu dem Tag der als “Black Friday” wohl für immer in unseren Köpfen bleiben wird. Der “Black Friday” ging eigentlich schon am Donnerstagabend los. Kurz vor der Zusammenkunft sagte mir der Koordinator, dass wir uns nach der Versammlung nochmal treffen müssen. Was da passiert ist, war für mich grausame seelische Qual. Nicht nur das Gespräch an sich, auch das ich nicht wusste, worum es wirklich ging, hat mich schon im Vorhinein mürbe gemacht. Der zweite Älteste, der mit anwesend sein sollte, mein Schwager, sagte mir kein Sterbenswörtchen.
Was folgte war ein Kreuzverhör. Ich musste alles offenlegen, was mit A. zu tun hatte. Ich musste, um meiner Bezeichnung zu entgehen, jeglichen Kontakt (keine Briefe, Anrufe, SMS, E-Mail, sogar auf Arbeit) mit A. abbrechen. Ich durfte ihr das nicht mal persönlich sagen. Mein Einwand, dass wenn A. etwas mit Leuten aus der Versammlung – also meinen Freunden, die sie ja durch mich kennt – etwas unternehmen will und ich nicht dabei sein darf (und das wurde mir wortwörtlich verboten) bin ich ja so gut wie ausgeschlossen, wurde nicht akzeptiert. Am Ende konnte ich eine Art Abschieds-E-Mail herausschlagen, von der sie aber eine Kopie wollten. Ich schrieb ihr zwei. Eine die die Ältesten bekamen und eine weitere, in der ich mich für all das entschuldige, was ich zuvor geschrieben hatte und ihr meine Liebe versicherte.
Was das Ganze so schlimm gemacht hat, war die Tatsache, dass wir uns eigentlich nach der Versammlung treffen und uns einen schönen Abend machen wollten. Daraus wurde nichts. Während des Gesprächs konnte sie mich natürlich nicht erreichen. Danach war ich so fertig, dass ich ihr nur geschrieben habe, dass ich ihr morgen früh schreiben werde und mein Handy ausgemacht. Dann bin ich nach Hause gefahren und habe die ganze Nacht geweint. Ihr erging es nicht wesentlich besser. Sie hat sich in einer Bar abgeschossen und bei einem Kumpel geschlafen. Am nächsten Tag war der eigentliche “Black Friday”. Früh erreichte sie meine E-Mail und ich habe versucht, ihr in weiteren E-Mails das Ganze zu erklären. Ich dachte ja, dass dieses ganze Verfahren richtig sei und ich habe versucht, sie zu beruhigen. Wir trafen uns kurz eine Stunde vor Schichtbeginn. Ich kam mir so abscheulich und angewidert vor, der Person, die ich so liebte, so etwas anzutun… ich verfluchte mich dafür. Wie grausam das Ganze war, kann ich gar nicht in Worte fassen, will ich gar nicht. Es war für sie so schlimm, dass ich sie ablösen musste. Eine Kollegin hatte gemeint, ich sollte sie nach Hause schicken. Den Freitag habe ich sie nicht mehr gesehen.
Aber Liebe findet ja bekanntlich ihren Weg. So kam es, dass wir uns am Samstagabend bei ihr getroffen haben. Wir haben über ihren “Hirtenbesuch” gesprochen, den sie von den beiden Ältesten bekommen hatte und in dem ihr gesagt wurde, dass sie wie die fremdländischen Frauen aus biblischer Zeit sei. Sie wurde so fertig gemacht, dass sie den Besuch in einer E-Mail an mich als grausam bezeichnete. Wir haben an diesem Tag beschlossen, uns ab und zu heimlich zu sehen. Aus ab und zu wurde jeden Tag und heimlich ging nicht – es war Sommer wir mussten einfach raus. Das Ganze ging so bis September.
Die Ältesten beschlossen, mir die Dienstämter wegzunehmen mich aber nicht zu bezeichnen, weil A. schon einen Monat später zur Taufe angemeldet war und es damit eh aufgehoben wäre. So machte ich allen was vor. Warum? Weil die Ältesten den Rat der Bibel ausführen und die Versammlung rein erhalten wollten, auf Kosten unserer Psyche. Noch heute ist das Ganze nicht spurlos an uns vorbeigegangen, heute bin ich nur noch wütend. Etwas so Schönes wie sich zu verlieben, eine rosarote Brille aufzuhaben, hoffnungslos romantisch zu sein und sich Stück für Stück näher kennen zu lernen wurde uns genommen. Wir verbrachten jede freie Minute miteinander. Irgendwann schlief ich bei ihr und fuhr nach Hause bevor der Wecker meines Mitbewohners klingelte. Ich parkte mein Auto in der Nebenstraße damit ich nicht gesehen würde. Und falls ich gesehen worden wäre, hätte ich sagen können, dass ich bei einem Bruder war, der am Ende der Straße wohnte. Ich dachte, dass alles besser werden würde, wenn A. getauft würde, aber so war es nicht. Einen Tag nach ihrer Taufe fuhren wir mit einigen Brüdern einer anderen Versammlung ins Bethel Selters. Am Abend wollten wir noch ein wenig spazieren gehen und liefen in die Stadt. Nach ungefähr einer Stunde bekam ich einen Anruf, wo wir denn wären und dass es nicht so gut sei, wenn wir allein unterwegs wären. Wir sollten doch aufpassen, dass nichts passiert. Ideale Bedingungen, um jemanden kennenzulernen, oder nicht?. Unser Leben hatte sich nicht groß geändert, außer dass ich jetzt offiziell zu A. konnte. Wenn ich sagte, dass wir nie allein wären, weil A. in einer 3er WG wohnte, war das für die meisten kein Grund, beruhigt zu sein. Ich durfte mir anhören, dass es ja Weltmenschen seien, die gar nicht solche hohen Moralvorstellungen hätten. Zu Freunden gehen war nicht drin, viele hatten sich entschlossen, nichts mit uns machen zu wollen. So auch mein Schwager, der bereits im September zu mir gesagt hatte, dass er auf seinen Ruf achten müsse und sich nicht mit meinen Handlungen identifizieren will. Wir hatten mit einem weiteren Freund geplant, zur IAA nach Frankfurt zu fahren. Ein paar Tage vorher hat er sich mit mir getroffen und mir verkündet, er würde nicht mitkommen und auch sonst nichts mit mir unternehmen wollen. Wenn ich weiter in der Versammlung neben ihm sitzen wollte, könnte ich das machen, es würde aber nicht von ihm ausgehen. Der andere Bruder sagte dann ebenfalls ab. So stand ich da. Familie T. hat sich ähnlich entschieden und so verging der Alltag, dass ich zu A. fuhr und wir Zeit miteinander verbrachten. Ich versuchte in der Versammlung so vorbildlich zu sein, wie es nur ging, aber ein Schatten lag über mir und ich konnte machen was ich wollte, ich kam nicht weiter. Ich durfte keine Vorrechte wahrnehmen, ja noch nicht einmal Mikrofone reichen oder an der Soundanlage sitzen. Ab und zu mal eine Lesung oder ein kleiner Vortrag… das war alles. Als unser Koordinator dann aber Hilfe brauchte, um mit einem englischsprachigen Bruder Dokumente auszufüllen und etwas über seine derzeitige Situation herauszufinden, da war ich wieder gut genug, das konnte ich dann wieder machen, obwohl das Aufgaben der Dienstamtgehilfen und Ältesten sind.
Irgendwann stand der Termin für unsere Hochzeit fest und wir durften nach einigen Gesprächen und Drängen meiner Eltern eine Ansprache im Königreichssaal halten lassen. Unsere Feier sollte aus der Familie, Kommilitonen und Freunden von A. und meiner Familie und einigen Freunden bestehen. Selbst das fanden einige komisch, dass so viele Weltmenschen dabei sein würden. Merkwürdigerweise sagten einige kurz vorher ab. Selbst die Schwester, die mit A. studiert hatte, sagte erst ab, dann zu und dann wieder ab, was schon eine Enttäuschung war. Eine sehr spannende Situation hatten wir vor der Hochzeit noch: Wir wollten einen Bruder einladen, der inzwischen eine weltliche Freundin hatte und ich sollte jetzt entscheiden, ob er kommen darf oder nicht. Verschiedene Leute gaben mir zu verstehen, dass es nicht angebracht wäre und ich unterhielt mich mit ihm darüber.
Als ich merkte, dass er Sachen tat, die nicht in die Versammlung passten, besprach ich das mit A. und einem Ältesten und lud ihn wieder aus. Später kam der Älteste, der Koordinator, auf mich zu und wollte noch Einzelheiten wissen und er gab mir zu verstehen, dass ich A. mit so etwas nicht konfrontieren solle, weil sie noch so jung in der Wahrheit sei.
Das hat mich absolut geschockt: Ich darf mit meiner Frau über bestimmte, nicht einwandfreie Themen nicht reden, um sie nicht zu beunruhigen? Und was ist mit mir? Wenn mich etwas beschäftigt, möchte ich das doch mit ihr besprechen können. Auch wenn das aufzeigt, dass in der Versammlung viel Mist passiert. Und wenn es dazu führt, dass es ein schlechtes Bild auf die Versammlung wirft dann, ist das eben so, es wäre ja keine Lüge sondern die Wahrheit. Die Wahrheit, von der alle reden, immer ehrlich sein, selbst etwas zu verschweigen ist eine Lüge.
Aber egal – unser einziger Gedanke war der, dass nach der Hochzeit endlich alles besser werden würde und wir einfach unser Leben leben könnten. Man könnte sagen, dass es auch so war. Das Eheleben hatte vieles verändert. Es ist nicht alles einfach gewesen, ich will aber auch nicht sagen, dass es eine Qual war, doch haben wir einfach viel zu früh geheiratet. Wir lernten uns weiter kennen, aber auf andere Weise. Ich fand heraus, was es wirklich heißt, bulimisch zu sein. A. hatte davon erzählt, doch konnte ich damals nicht die Ausmaße des Ganzen erahnen. Ich stelle mir vor, dass wenn wirklich die ganze Zeit ein Aufpasser bei uns gewesen wäre, ich noch nicht einmal das erfahren hätte.
Und das wäre auch verständlich gewesen, wer würde schon von einer schlechten Angewohnheit oder einer unangenehmen Krankheit vor einer dritten, nicht vertrauten Person erzählen?
Von der Hochzeit bis Dezember passierte nicht so viel, dass es hier erwähnenswert wäre. Wir haben von vielen aus der Versammlung und von Freunden tolle Geschenke bekommen und dafür möchte ich mich bei allen nochmal herzlich bedanken. Kleine Dankeskarten hat es gegeben, aber ich kann mir vorstellen dass nach unserem Rückzug keiner Wert darauf gelegt hätte, eine solche zu bekommen.
Nur falls bei dem einen oder anderen der Gedanke aufkommt, es war nicht geplant, dass wir uns ein paar Monate nach der Hochzeit zurückziehen und ich für meinen Teil ziehe mich nicht von Menschen zurück sondern von der Wachtturmgesellschaft. Deshalb freue ich mich sehr über die vielen Geschenke, kann mich aber nicht so bedanken wie ich es vorhatte.
Dabei fühle ich mich auch nicht schlecht, denn ich folge keinen Regeln die besagen, keinen Umgang mehr mit anderen Menschen zu haben und man schenkt ja, weil man sich für den anderen freut und nicht, weil man etwas zurückerwartet. Geschenke sind ja nicht an Bedingungen geknüpft – wie zum Beispiel in der gleichen Organisation tätig zu sein –, ansonsten müsste man nochmal darüber nachdenken, was ein Geschenk ausmacht.
Ich habe in diesen sieben Monaten angefangen mich zu informieren, um meine Entscheidungen auch zu begründen und für mich die Gewissheit zu haben, dass das was ich tue für mich das richtige ist. Als Zeuge Jehovas ist es verboten sich mit Aussteigern zu befassen und ihre Literatur zu lesen. Dies wird immer damit begründet, dass sie gar kein richtiges Bild vermitteln von dem, was sie meinen erlebt zu haben. Das Ganze wird so gut vermittelt, dass man richtig Angst bekommt sobald etwas Schlimmes über Zeugen Jehovas gesagt wird. Nur würde ich es besser finden, wenn man sich genau darüber informieren und selbst erkennen könnte, ob das alles gelogen ist oder nicht. Denn, wenn nichts an den Argumenten dran wäre, würde sich das von selbst aufdecken und jeder würde erkennen, dass da nichts dran ist. So bleibt immer eine Frage im Raum, die nie geklärt werden wird, bis jemand wie ich in eine Situation kommt und zweifelt.
An die Personen, die mir nahe standen
Wer meine Entscheidungen nachvollziehen will, sollte diesen Brief gründlich bis zu Ende lesen, nur dann wird man verstehen warum ich so handle wie ich es gerade tue. Dann bin ich auch bereit, mich auszutauschen und eventuelle Fehler zu überdenken.
Einige haben sich nach meinem Befinden erkundigt, andere wollten mich zum Essen einladen und wieder anderen war es schlichtweg egal, dass wir uns nun über ein halbes Jahr nicht gesehen haben. Meine lieben Eltern haben es vorgezogen jetzt schon mal den Kontakt bis aufs Notwendigste abzubrechen, obwohl ich nicht im geringsten gesündigt habe.
Seit mir ein Ältester einer Nachbarversammlung erzählt hat, er habe mal einem Taufanwärter gefragt ob er wirklich mal geprüft hat, ob ihn seine Eltern nicht in einer Sekte großgezogen haben, keimte auch in mir der Gedanke ob es so wäre. Geprüft habe ich in der Tat nie irgendetwas. Alles was ich gelesen habe, hatte entweder nicht mit Religion zu tun oder war von der Wachtturmgesellschaft herausgegeben – wodurch ich nie die Gelegenheit hatte zu prüfen, ob das was ich mein ganzes Leben gelernt habe, überhaupt richtig ist. Gelernt habe ich immer, dass man gar keine anderen Quellen prüfen muss, weil die leitende Körperschaft das alles richtig von Gott gegeben aufschreibt oder aufschreiben lässt. Ihre Interpretation der Bibel wäre auf jeden Fall die “Wahrheit” und wenn man das aktuelle Verständnis ändert, leuchtete das Licht heller und wir glauben jetzt etwas anderes, es ist ja jetzt auch viel klarer, zumindest bis es wieder geändert wird.
Auch über Bereiche, über die die Bibel gar nichts sagt, gibt es klare Anweisungen wie ich mich zu verhalten habe, was ich zu tun und zu lassen habe. Warum? Weil es heidnischen Ursprungs ist. Was ich nie verstanden habe, war, dass wir nicht mit Getränken anstoßen dürfen (obwohl es ALLE mit denen ich zusammen war getan haben, wenn wir unter uns waren), weil früher damit Göttern zugeprostet wurde. Auf der anderen Seite muss aber jeder Zeuge Jehovas eine Krawatte tragen, die ihren Anfang im Militär fand.
“Die plausibelste Geschichte der Krawatte beginnt mit dem 30-jährigen Krieg (1618-1648). Damals waren mit die besten Krieger die Reiter aus Kroatien und haben für König Ludwig XIII gekämpft. Sie haben den Unterschied in diesem Krieg ausgemacht und wurden deswegen dem König präsentiert. Diese Kriegshelden trugen leuchtende Seidenbänder um den Hals. König Ludwig XIII war nicht nur modebewusst, sondern auch eitel und war somit diesem Stil der kroatischen Reiter sofort verfallen. Von diesem Punkt an war das Wort‚ Cravat (eine Ableitung des Wortes ‚ Croat’) geboren und wurde auch sehr schnell beliebt beim gesamten europäischen Adel.”
Quelle: http://www.krawattenspezialist.de/geschichte-der-krawatte
So oft wird mit zweierlei Maß gemessen. Hier ein Beispiel, welches meines Erachtens nicht so lange her ist und den Kern meiner Gedanken trifft:
Die Brüder in Malawie wurden in den 1990er Jahren schwer verfolgt, getötet, vergewaltigt und geplündert, weil sie keine Parteikarte erworben haben. Diese diente nur der Form, um zu sehen, ob sich jemand offiziell gegen den Putsch stellt. Zeugen Jehovas wurde aus Gründen der Neutralität verboten, diese Karte zu erwerben, was diese schlimmen Folgen hatte. Kurze davor hatte die WTG entschieden, dass Zivildienst für Zeugen Jehovas nicht in Frage kommt, weil es als Ersatz für den Wehrdienst gilt.
In Mexico musste man zu dieser Zeit wöchentlich ein Jahr lang eine Kriegsausbildung ableisten, um die keiner herumkam. Die Behörden waren aber bestechlich und viele Brüder wählten diesen Weg. Wie reagierte die WTG darauf? Sie billigte es, weil es ja nur eine Zahlung sei, als ob man eine Wahre kaufen würde.
Jeder sollte urteilen, ob das gerecht ist oder nicht.
Auch machen wir uns aus so vielen Sachen gar nichts und dann aus einer Mücke einen Elefanten. Mehrmals wurde darauf hingewiesen, dass Filme wie Harry Potter und die “Der Herr der Ringe”-Trilogie nichts für einen Zeugen Jehovas sind. Einige haben in so einer Diskussion ihr Dienstamt verloren. Auf der anderen Seite wurde gegen die schon in den 60er Jahren bekanntgewordenen “Star Wars” Filme meines Wissens kein Wort verloren. Nach ausreichender Prüfung kann ich sagen, dass sich die besagten Filme nicht im geringsten Unterscheiden was Magie, Zauberei, Krieg und Gewalt betrifft.
Und dennoch gibt es welche, die das eine verurteilen und das andere dulden, wobei die breite Masse einfach alles guckt und es einfach niemanden sagen und jenen verurteilen der ehrlich ist und diese Dinge mit seinem Gewissen vereinbaren könnte und anspricht.
Meine Entscheidung, die Zusammenkünfte nicht mehr zu besuchen. traf ich am 8. Dezember 2012 in den Abendstunden einer eiskalten Winternacht. Ich kam von einem Konzert nach Hause, ich darf bestimmt nicht sagen mit wem ich da war, weil ein Ältester dabei war und das bestimmt nicht ganz vorbildlich war. Ich hatte zuvor eine kleine Meinungsverschiedenheit mit meiner Frau, aus der wir beide nicht so recht herausfanden.
Auf jeden Fall lag ihr etwas schwer auf dem Herzen und wir hatten Freunde zu Besuch. Wir zogen uns zurück, um zu reden und ich habe nicht lange gebraucht, um herauszufinden was ihr eigentlich so zu schaffen machte. Wir unterhielten uns bestimmt zwei Stunden über Zeugen Jehovas und wie fertig sie das ganze Vorbildlichsein, der Druck, der Stress und die Heuchelei machen. Ich habe angefangen, Dinge die ich für Selbstverständlich nahm oder die ich nie aus einem anderen Blickwinkel betrachtet hatte, in einem völlig neuen Licht zu sehen. An dieser Stelle wurden mir wirklich die Augen geöffnet und ich begann, wahrscheinlich wirklich zum ersten Mal in meinem Leben über meinen Glauben nachzudenken. Ich dachte nach über Dinge wie das eine sagen und das andere tun, Menschen die eine andere Meinung haben, zu verachten und auszuschließen, Umgangsverbot, die Ältesten, die mir den Kontakt zu A. (meiner Frau) unter Androhung von Bezeichnung verboten hatten (einem „Ausschluss light“, wie ich es gern nenne). Darüber, dass wir davon überzeugt sind die absolute Wahrheit zu haben und alle anderen Religionen – wirklich alle anderen – falsch liegen. Auf einmal klang für mich doch alles nicht mehr so nach harmonisch zusammengefügt in Liebe.
Meine ersten Gedanken am nächsten Morgen auf dem Weg zum Weihnachtsmarkt waren, dass dies alles gerade gar nicht passiert. Genau in der Situation, in der du jetzt steckst, wolltest du doch niemals sein, so einer der zweifelt, der Jehova infrage stellt, ein Abtrünniger.
Auf der anderen Seite spürte ich eine absolute Erleichterung, obwohl ich doch gerade mal ein paar Stunden eine Alternative zu meinem bisherigen Leben aus Predigtdienst, Versammlung und Vorbereitung in Betracht zog.
Ich fühlte einfach, dass ich diese Veränderung in meinem Leben brauche. Ich fühlte mich glücklich, erleichtert und zufrieden.
Doch ein Gewitter zog in meiner heilen Zukunftsgedankenwelt auf: Was ist mit deiner Familie und deinen Freunden? Mir war klar, wenn ich in meinem Leben eine Veränderung wollte, wird das ein harter Kampf, doch ich war bereit diesen Weg zu gehen. Ich wollte keine Angst mehr haben, etwas falsch zu machen und mich dann vor Ältesten rechtfertigen zu müssen. Ich wollte mich nicht mehr beeinflussen lassen, wie ich mir die Zukunft vorstelle, wie ich meine Freizeit gestalten will, was ich für Musik gut finde, welche Filme ich gucken möchte, was ich mal arbeiten möchte und ich möchte einfach nicht mehr als billiger Gebäudereiniger arbeiten. Nein, ich möchte studieren und Menschen helfen. Ja, ich will höhere Bildung und ich glaube nicht, dass mich diese von Gott entfernt. Ich bin davon überzeugt, dass mich mehr Wissen auch näher zu ihm bringt.
Der Grundstein war gelegt. Ich fing an zu forschen – und zwar wirklich zu forschen. Ich ließ andere Gedanken wirken, akzeptierte sie, respektierte sie.
Es folgte eine Zeit des Erwachens. Ich blühte regelrecht auf. Ich war motiviert, begann zu argumentieren, zu diskutieren, bildete mir eine eigene Meinung. Ich fing an, mich selbst in einem anderen Licht zu sehen. Zum ersten Mal begriff ich, dass ich nicht alles können und wissen muss, dass ich Fehler machen darf und selber aus diesen lernen kann. Ja, Fehlentscheidungen gehören nun einmal zum Leben dazu und ich kann selbst erkennen, welche Lehre ich daraus ziehe und welches Lehrgeld ich bezahlen muss. „Sich selbst reflektieren“, dieser Begriff war für mich neu, was sollte das denn sein? Ich weiß es heute immer noch nicht, aber ich begreife mich und meine Umwelt mehr. Ich weiß, dass ich mich selber akzeptieren muss, mit mir ins Reine kommen muss. Dass ich erkennen muss, was mich wirklich glücklich macht. Ja, mich selbst zu lieben, das muss ich lernen und das ist vielleicht leichter gesagt als getan. Früher konnte ich nicht „Nein“ sagen, ich tat alles was von mir verlangt wurde ohne drüber nachzudenken. Ohne mich zu informieren, zu hinterfragen oder ausreichend zu planen. So kam es oft vor, dass ich über meine Fähigkeiten hinaus Dingen zugestimmt habe, die ich nicht schaffen konnte und Ärger bekam, wenn ich sie nur unzureichend erfüllt hatte.
So erging es mir als ich Gebietsdiener der Versammlung wurde. Diesen Posten wollte ich schon immer haben und schon Jahre früher habe ich davon geträumt, Gebiete einzuteilen und zu vergeben und Ordnung ins Chaos zu bringen. Ich war überglücklich, als es soweit war. Doch dann der Schock, ein Ältester, sogar ein Freund und Familienmitglied hatte die Oberhand über das Projekt und schon war es aus mit meinen Träumen. Ich sollte das ganze Versammlungsgebiet neu einteilen. Soweit so gut, das wollte ich ja auch, nur ich sollte ALLE Klingeln der Häuser zählen und sie in gleichgroße Gebiete einteilen. Die Arbeit begann am Computer und machte mir Spaß. Ich war richtig motiviert, doch dann ging es ans Zählen. Ich habe für die ersten drei Gebiete über drei Stunden gebraucht, es war kalt und schon hatte ich keine Lust mehr. Ich bat den Ältesten darum, mir noch einen Bruder mit ins Boot zu holen, damit wir uns die Arbeit teilen könnten, aber er lehnte ab.
Man beachte: Ich hatte zwei Teilzeitjobs, stand im Pionierdienst (also 70 Stunden im Monat im Predigtdienst), war Dienstamtgehilfe und somit mehr Aufgaben und ich durfte die ganze Zählaktion nicht als Dienstzeit zählen. Und nun erklär mir mal, wie man das mit Anfang Zwanzig als Jugendlicher schaffen soll, ohne zu erschöpfen und die ganze Sache hinschmeißen zu wollen.
Die Idee mit dem Hinschmeißen kam schon kurz danach und ein halbes Jahr nach der Sache war es eigentlich schon um mich geschehen. Ich konnte oder wollte es nur noch nicht einsehen, aber ich steckte schon mittendrinn. Da erreichte mich auch noch ein Anruf von dem Ältesten, der mit mir die Gebiete machte. Er fragte mich warum ich mit meinen Predigtdienststunden soweit hinterherhänge, wie großartig. Ich war so sauer.
Ich glaube, in dieser Zeit lernte ich A.kennen. Sie war etwas Besonderes, dass wusste ich als ich Ihr Bewerbungsfoto im Büro sah. Und ja, sie war wirklich etwas Besonderes. Obwohl ich Frauen gegenüber eher schüchtern bin, wollte ich diese Frau unbedingt kennenlernen. Ich habe sie mit eingearbeitet und wir haben erzählt und erzählt, über alles Mögliche: Filme, Bücher, Studium, Arbeit und Belanglosigkeiten. Und wir haben uns verstanden, ja es war sogar schön mit ihr. Mir fällt gerade ein, dass sogar an unserem ersten gemeinsamen Arbeitstag meine Schwester und mein Schwager, der Älteste, ins Café kamen.
Die Zeit nahm ihren Lauf und A. besuchte mich immer öfter in meiner Schicht, sie blieb mehrere Stunden einfach bei mir und wir erzählten. Sie lud mich ein, etwas mit ihr und ihren Freunden zu unternehmen. Mein christliches Zeugen Jehovas Gewissen ließ das nicht zu und ich sagte immer kurz vorher ab.
An einem Tag sagte sie, dass sie gern in eine neue WG umziehen würde. Spaßeshalber schlug sie vor, dass wir ja zusammenziehen könnten. Ich war so hin und her gerissen. Erst in dieser Zeit fing ich an, seltener in den Predigtdienst zu gehen und Stunden aufzuschreiben, die ich gar nicht gegangen bin, um mehr Zeit mit ihr verbringen zu können. Wir verbrachten jetzt auch außerhalb der Arbeit Zeit miteinander. Ich besuchte sie und wir besuchten zusammen ihre Kommilitonen, die mir sehr ans Herz gewachsen sind.
Im Dezember 2010 kam ein verhängnisvoller Abend, der mein ganzes Leben verändern hätte können, wenn ich mich hätte dazu durchringen können. Ich stand vor dem Spiegel völlig aufgewühlt aus Sorge vor Konsequenzen, die sicherlich bald kommen würden und vor Geldproblemen die ich hatte.
Mein Plan war alles, was Zeugen Jehovas betrifft, hinzuschmeißen und mir eine richtige Arbeit zu suchen, um meine Schulden loszuwerden, mit A. zusammenzuziehen und einfach glücklich zu werden. Aber an diesem Abend entschied ich mich dagegen. Aber einen Teil meines Planes wollte ich durchführen. Ich wollte mit dem Pionierdienst aufhören, um mehr Zeit für mich zu haben und um mir eine neue Arbeit zu suchen.
Tags darauf war ich mit meinen Eltern verabredet, wir fuhren ins Solebad in Schönebeck und ich erzählte Ihnen meine Pläne.
Alles was meine Eltern dazu sagen konnten, war, dass ich nicht mit dem Pionierdienst aufhören soll und dass wir das schon auf die Reihe kriegen, vielleicht mit einem Kredit. Hauptsache nicht mit dem Dienst aufhören, damit ja keiner sein Gesicht verliert. Dass ich gar nicht reich werden wollte, sondern nur mein Leben ordnen wollte, hat sie nicht interessiert. An dem Tag habe ich viel über A. und ihre Freunde erzählt und meine Eltern meinten, ich solle ja vorsichtig sein und nicht so viel Zeit mit Weltmenschen verbringen.
Also musste ein Plan B her. Ich wollte A. natürlich nicht verlieren. Sie hatte schon so viel für mich getan – ohne es zu wissen. Ich lernte achtsamer mit Geld umzugehen (ein Manko, das ich bis heute habe). Ich wurde offener und ja, wie soll ich es sagen, ich wurde toleranter. Dennoch tat ich viel in und für die Versammlung und unweigerlich sprach ich mit A. über meinen Glauben. Dass sie schnell als Zeugin Jehovas getauft wurde, ist allen bekannt, wenigen wird bekannt sein welchen schweren Weg wir zu gehen hatten.
Die Monate vergingen und es wurde wärmer. Ich besuchte sie in Ihrer Schicht, sie besuchte mich in meiner und wir trafen uns regelmäßig und gingen an den Fluss, in den Park, an den H...platz und zu ihr. Erst zögerlich, dann doch jeden Sonntag schlich ich mich aus meiner WG nach dem Filmeabend mit Freunden und fuhr ins Flower Power zum Livemusikabend, zu ihr. Was für eine spannende Zeit das doch war… irgendwie wie ein Abenteuer, aber nicht ohne Folgen. Abenteuer hin oder her ich musste, um der Person nahe zu sein, die ich sehr mochte, alle die ich kannte, belügen. Besonders schwer traf das Familie T. und Familie S., die ich zu meinen engsten Freunden zählte. Dennoch musste ich an mich denken. Ich wollte eine Freundin, die anders ist, die zu mir passt. Ich wollte Bestätigung, ich wollte Nähe. Ich wollte küssen und geküsst werden. Ich wollte echte Liebe. Und zu diesem Zeitpunkt wollte ich ihre Liebe. Das war aber alles andere als einfach, denn bei Zeugen Jehovas ist man nie unbeobachtet...
Anfang April waren wir dann zusammen, die ganzen für mich schönen romantischen Details haben in diesem Brief nichts zu suchen.
Eines Tages waren wir beide im Café und ich bekam einen Anruf vom Koordinator der Ältesten, dass er sich gern mit mir unterhalten würde. Ich hatte so viel Angst, dass ich gleich hingefahren bin. Es ging darum, ob eine Frau in meinem Leben eine größere Rolle spielt und dass, wenn sie nicht aus der Versammlung ist, ich natürlich kein Diener mehr sein könne. Nach meinem Verständnis schlug er mir vor, mein Dienstamt aufzugeben, alles zu regeln und wenn ich wieder vorbildlich wäre, könnte ich mein Dienstamt sogar zurückbekommen.
Dieser Vorschlag wurde aber später “richtiggestellt”. Ich stand also jetzt vor der Wahl: Erstens Pionierdienst und Dienstamt aufgeben und mehr oder weniger geheim mit A. zusammen zu sein oder den Kontakt mit A. abzubrechen bis sie getauft ist. Am Abend saßen wir an der Elbe und bliesen Trübsal. Sie wollte das nicht von mir verlangen und sie war so ehrlich, mir zu sagen. dass sie nicht wisse was in einem Jahr (wenn sie getauft sein könnte) sein wird und ob sie dann überhaupt noch Gefühle für mich hätte. Und wir beschlossen erstmal genauso weiterzumachen wie bisher. Bis zu dem Tag der als “Black Friday” wohl für immer in unseren Köpfen bleiben wird. Der “Black Friday” ging eigentlich schon am Donnerstagabend los. Kurz vor der Zusammenkunft sagte mir der Koordinator, dass wir uns nach der Versammlung nochmal treffen müssen. Was da passiert ist, war für mich grausame seelische Qual. Nicht nur das Gespräch an sich, auch das ich nicht wusste, worum es wirklich ging, hat mich schon im Vorhinein mürbe gemacht. Der zweite Älteste, der mit anwesend sein sollte, mein Schwager, sagte mir kein Sterbenswörtchen.
Was folgte war ein Kreuzverhör. Ich musste alles offenlegen, was mit A. zu tun hatte. Ich musste, um meiner Bezeichnung zu entgehen, jeglichen Kontakt (keine Briefe, Anrufe, SMS, E-Mail, sogar auf Arbeit) mit A. abbrechen. Ich durfte ihr das nicht mal persönlich sagen. Mein Einwand, dass wenn A. etwas mit Leuten aus der Versammlung – also meinen Freunden, die sie ja durch mich kennt – etwas unternehmen will und ich nicht dabei sein darf (und das wurde mir wortwörtlich verboten) bin ich ja so gut wie ausgeschlossen, wurde nicht akzeptiert. Am Ende konnte ich eine Art Abschieds-E-Mail herausschlagen, von der sie aber eine Kopie wollten. Ich schrieb ihr zwei. Eine die die Ältesten bekamen und eine weitere, in der ich mich für all das entschuldige, was ich zuvor geschrieben hatte und ihr meine Liebe versicherte.
Was das Ganze so schlimm gemacht hat, war die Tatsache, dass wir uns eigentlich nach der Versammlung treffen und uns einen schönen Abend machen wollten. Daraus wurde nichts. Während des Gesprächs konnte sie mich natürlich nicht erreichen. Danach war ich so fertig, dass ich ihr nur geschrieben habe, dass ich ihr morgen früh schreiben werde und mein Handy ausgemacht. Dann bin ich nach Hause gefahren und habe die ganze Nacht geweint. Ihr erging es nicht wesentlich besser. Sie hat sich in einer Bar abgeschossen und bei einem Kumpel geschlafen. Am nächsten Tag war der eigentliche “Black Friday”. Früh erreichte sie meine E-Mail und ich habe versucht, ihr in weiteren E-Mails das Ganze zu erklären. Ich dachte ja, dass dieses ganze Verfahren richtig sei und ich habe versucht, sie zu beruhigen. Wir trafen uns kurz eine Stunde vor Schichtbeginn. Ich kam mir so abscheulich und angewidert vor, der Person, die ich so liebte, so etwas anzutun… ich verfluchte mich dafür. Wie grausam das Ganze war, kann ich gar nicht in Worte fassen, will ich gar nicht. Es war für sie so schlimm, dass ich sie ablösen musste. Eine Kollegin hatte gemeint, ich sollte sie nach Hause schicken. Den Freitag habe ich sie nicht mehr gesehen.
Aber Liebe findet ja bekanntlich ihren Weg. So kam es, dass wir uns am Samstagabend bei ihr getroffen haben. Wir haben über ihren “Hirtenbesuch” gesprochen, den sie von den beiden Ältesten bekommen hatte und in dem ihr gesagt wurde, dass sie wie die fremdländischen Frauen aus biblischer Zeit sei. Sie wurde so fertig gemacht, dass sie den Besuch in einer E-Mail an mich als grausam bezeichnete. Wir haben an diesem Tag beschlossen, uns ab und zu heimlich zu sehen. Aus ab und zu wurde jeden Tag und heimlich ging nicht – es war Sommer wir mussten einfach raus. Das Ganze ging so bis September.
Die Ältesten beschlossen, mir die Dienstämter wegzunehmen mich aber nicht zu bezeichnen, weil A. schon einen Monat später zur Taufe angemeldet war und es damit eh aufgehoben wäre. So machte ich allen was vor. Warum? Weil die Ältesten den Rat der Bibel ausführen und die Versammlung rein erhalten wollten, auf Kosten unserer Psyche. Noch heute ist das Ganze nicht spurlos an uns vorbeigegangen, heute bin ich nur noch wütend. Etwas so Schönes wie sich zu verlieben, eine rosarote Brille aufzuhaben, hoffnungslos romantisch zu sein und sich Stück für Stück näher kennen zu lernen wurde uns genommen. Wir verbrachten jede freie Minute miteinander. Irgendwann schlief ich bei ihr und fuhr nach Hause bevor der Wecker meines Mitbewohners klingelte. Ich parkte mein Auto in der Nebenstraße damit ich nicht gesehen würde. Und falls ich gesehen worden wäre, hätte ich sagen können, dass ich bei einem Bruder war, der am Ende der Straße wohnte. Ich dachte, dass alles besser werden würde, wenn A. getauft würde, aber so war es nicht. Einen Tag nach ihrer Taufe fuhren wir mit einigen Brüdern einer anderen Versammlung ins Bethel Selters. Am Abend wollten wir noch ein wenig spazieren gehen und liefen in die Stadt. Nach ungefähr einer Stunde bekam ich einen Anruf, wo wir denn wären und dass es nicht so gut sei, wenn wir allein unterwegs wären. Wir sollten doch aufpassen, dass nichts passiert. Ideale Bedingungen, um jemanden kennenzulernen, oder nicht?. Unser Leben hatte sich nicht groß geändert, außer dass ich jetzt offiziell zu A. konnte. Wenn ich sagte, dass wir nie allein wären, weil A. in einer 3er WG wohnte, war das für die meisten kein Grund, beruhigt zu sein. Ich durfte mir anhören, dass es ja Weltmenschen seien, die gar nicht solche hohen Moralvorstellungen hätten. Zu Freunden gehen war nicht drin, viele hatten sich entschlossen, nichts mit uns machen zu wollen. So auch mein Schwager, der bereits im September zu mir gesagt hatte, dass er auf seinen Ruf achten müsse und sich nicht mit meinen Handlungen identifizieren will. Wir hatten mit einem weiteren Freund geplant, zur IAA nach Frankfurt zu fahren. Ein paar Tage vorher hat er sich mit mir getroffen und mir verkündet, er würde nicht mitkommen und auch sonst nichts mit mir unternehmen wollen. Wenn ich weiter in der Versammlung neben ihm sitzen wollte, könnte ich das machen, es würde aber nicht von ihm ausgehen. Der andere Bruder sagte dann ebenfalls ab. So stand ich da. Familie T. hat sich ähnlich entschieden und so verging der Alltag, dass ich zu A. fuhr und wir Zeit miteinander verbrachten. Ich versuchte in der Versammlung so vorbildlich zu sein, wie es nur ging, aber ein Schatten lag über mir und ich konnte machen was ich wollte, ich kam nicht weiter. Ich durfte keine Vorrechte wahrnehmen, ja noch nicht einmal Mikrofone reichen oder an der Soundanlage sitzen. Ab und zu mal eine Lesung oder ein kleiner Vortrag… das war alles. Als unser Koordinator dann aber Hilfe brauchte, um mit einem englischsprachigen Bruder Dokumente auszufüllen und etwas über seine derzeitige Situation herauszufinden, da war ich wieder gut genug, das konnte ich dann wieder machen, obwohl das Aufgaben der Dienstamtgehilfen und Ältesten sind.
Irgendwann stand der Termin für unsere Hochzeit fest und wir durften nach einigen Gesprächen und Drängen meiner Eltern eine Ansprache im Königreichssaal halten lassen. Unsere Feier sollte aus der Familie, Kommilitonen und Freunden von A. und meiner Familie und einigen Freunden bestehen. Selbst das fanden einige komisch, dass so viele Weltmenschen dabei sein würden. Merkwürdigerweise sagten einige kurz vorher ab. Selbst die Schwester, die mit A. studiert hatte, sagte erst ab, dann zu und dann wieder ab, was schon eine Enttäuschung war. Eine sehr spannende Situation hatten wir vor der Hochzeit noch: Wir wollten einen Bruder einladen, der inzwischen eine weltliche Freundin hatte und ich sollte jetzt entscheiden, ob er kommen darf oder nicht. Verschiedene Leute gaben mir zu verstehen, dass es nicht angebracht wäre und ich unterhielt mich mit ihm darüber.
Als ich merkte, dass er Sachen tat, die nicht in die Versammlung passten, besprach ich das mit A. und einem Ältesten und lud ihn wieder aus. Später kam der Älteste, der Koordinator, auf mich zu und wollte noch Einzelheiten wissen und er gab mir zu verstehen, dass ich A. mit so etwas nicht konfrontieren solle, weil sie noch so jung in der Wahrheit sei.
Das hat mich absolut geschockt: Ich darf mit meiner Frau über bestimmte, nicht einwandfreie Themen nicht reden, um sie nicht zu beunruhigen? Und was ist mit mir? Wenn mich etwas beschäftigt, möchte ich das doch mit ihr besprechen können. Auch wenn das aufzeigt, dass in der Versammlung viel Mist passiert. Und wenn es dazu führt, dass es ein schlechtes Bild auf die Versammlung wirft dann, ist das eben so, es wäre ja keine Lüge sondern die Wahrheit. Die Wahrheit, von der alle reden, immer ehrlich sein, selbst etwas zu verschweigen ist eine Lüge.
Aber egal – unser einziger Gedanke war der, dass nach der Hochzeit endlich alles besser werden würde und wir einfach unser Leben leben könnten. Man könnte sagen, dass es auch so war. Das Eheleben hatte vieles verändert. Es ist nicht alles einfach gewesen, ich will aber auch nicht sagen, dass es eine Qual war, doch haben wir einfach viel zu früh geheiratet. Wir lernten uns weiter kennen, aber auf andere Weise. Ich fand heraus, was es wirklich heißt, bulimisch zu sein. A. hatte davon erzählt, doch konnte ich damals nicht die Ausmaße des Ganzen erahnen. Ich stelle mir vor, dass wenn wirklich die ganze Zeit ein Aufpasser bei uns gewesen wäre, ich noch nicht einmal das erfahren hätte.
Und das wäre auch verständlich gewesen, wer würde schon von einer schlechten Angewohnheit oder einer unangenehmen Krankheit vor einer dritten, nicht vertrauten Person erzählen?
Von der Hochzeit bis Dezember passierte nicht so viel, dass es hier erwähnenswert wäre. Wir haben von vielen aus der Versammlung und von Freunden tolle Geschenke bekommen und dafür möchte ich mich bei allen nochmal herzlich bedanken. Kleine Dankeskarten hat es gegeben, aber ich kann mir vorstellen dass nach unserem Rückzug keiner Wert darauf gelegt hätte, eine solche zu bekommen.
Nur falls bei dem einen oder anderen der Gedanke aufkommt, es war nicht geplant, dass wir uns ein paar Monate nach der Hochzeit zurückziehen und ich für meinen Teil ziehe mich nicht von Menschen zurück sondern von der Wachtturmgesellschaft. Deshalb freue ich mich sehr über die vielen Geschenke, kann mich aber nicht so bedanken wie ich es vorhatte.
Dabei fühle ich mich auch nicht schlecht, denn ich folge keinen Regeln die besagen, keinen Umgang mehr mit anderen Menschen zu haben und man schenkt ja, weil man sich für den anderen freut und nicht, weil man etwas zurückerwartet. Geschenke sind ja nicht an Bedingungen geknüpft – wie zum Beispiel in der gleichen Organisation tätig zu sein –, ansonsten müsste man nochmal darüber nachdenken, was ein Geschenk ausmacht.
Ich habe in diesen sieben Monaten angefangen mich zu informieren, um meine Entscheidungen auch zu begründen und für mich die Gewissheit zu haben, dass das was ich tue für mich das richtige ist. Als Zeuge Jehovas ist es verboten sich mit Aussteigern zu befassen und ihre Literatur zu lesen. Dies wird immer damit begründet, dass sie gar kein richtiges Bild vermitteln von dem, was sie meinen erlebt zu haben. Das Ganze wird so gut vermittelt, dass man richtig Angst bekommt sobald etwas Schlimmes über Zeugen Jehovas gesagt wird. Nur würde ich es besser finden, wenn man sich genau darüber informieren und selbst erkennen könnte, ob das alles gelogen ist oder nicht. Denn, wenn nichts an den Argumenten dran wäre, würde sich das von selbst aufdecken und jeder würde erkennen, dass da nichts dran ist. So bleibt immer eine Frage im Raum, die nie geklärt werden wird, bis jemand wie ich in eine Situation kommt und zweifelt.
Tousjours - 13. Jan, 23:18